Polyvagal-Theorie
„the great tragedy of Science — the slaying of a beautiful hypothesis by an ugly fact“.
(Thomas Henry Huxley)
Es nervt mich zunehmend, dass auch von mir sehr geschätzte Kolleg*innen immer häufiger sich auf diese Theorie beziehen und sie zitieren, als sei sie mittlerweile belegt. Daher der Impuls, auch hier deutlich zu machen: Sie ist ziemlich sicher falsch.
Die Polyvagaltheorie, 1995 postuliert von Stephen Porges und mehrfach ergänzt, ist eine Sammlung von Thesen, die sich mit der Rolle des Nervus vagus in der Regulation von Emotionen, sozialen Zusammenhängen und der Angstreaktion beschäftigen. Sie bezieht evolutionsbiologische, neurowissenschaftliche und psychologische Aspekte ein und postuliert die Aufteilung des Parasympathikus in zwei Anteile. Obwohl die Theorie in Psychotherapeutenkreisen weit verbreitet und oft als vermeintliche Ursache beobachteter Verhaltensweisen wie „fight, flight, freeze“ zitiert wird, wurde sie wissenschaftlich mittlerweile in fast allen Aspekten widerlegt.
Laut der Polyvagaltheorie besteht der Parasympathikus aus zwei Anteilen: einem phylogenetisch älteren, nicht-myelinisierten „dorsalen“ System und einem jüngeren, myelinisierten „ventralen“ System. Das dorsale System wird mit der Reaktion „freeze“ in Verbindung gebracht, während das ventrale System für die Regulation von sozialen Zusammenhängen und Emotionen zuständig sein soll ( social-engagement-system, SES). Diese Aufteilung basiert auf Porges‘ persönlichen Beobachtungen, jedoch fehlen bislang wissenschaftlich solide Belege, die diese Hypothese unterstützen könnten. Im Gegenteil, die Existenz und die angenommenen Funktionen der beiden postulierten „vagalen Systeme“ sind weitgehend widerlegt:
- Es gibt keine Belege, dass das „ventrale vagale System“ eine besondere Rolle bei sozialen Verhaltensweisen spielt.
- Die entscheidene Hirnregion für das Auslösen eines Freeze-Zustands ist nicht das „dorsale vagale System“, sondern der „ventrale“ Nucleus Ambiguus.
- Eine Sonderrolle von Säugetieren in Bezug auf den Vagusnerv und seine Physiologie sowie in Bezug auf Sozialverhalten existiert nicht.
Von Paul Grossman (emeritierter Forschungsleiter der Abteilung für Psychosomatik und Innere Medizin der Universitätsklinik in Basel) gibt es auf Researchgate einen langen Post, der die physiologischen Prämissen der Theorie ziemlich klar widerlegt und ihr damit den Boden entzieht.
Fun fact: In einem Artikel aus dem Jahr 2021 gibt Porges an, seine Theorie sei nicht dazu gedacht, belegt oder falsifiziert zu werden.
Fazit an alle Therapeuten: Vergesst diese Theorie, bleibt bei den Phänomenen!
Nachtrag / Ergänzung 19.10.2024:
Mit Paul Grossmann zusammen habe ich eine ausführliche Übersicht zur Polyvagaltheorie geschrieben, der letzte Woche erschienen ist:
»Polyvagal«: Die schöne Theorie und die hässlichen Fakten
Psychotherapie, 29. Jahrgang, Nr. 2, 2024, Seite 163–174, Psychosozial-Verlag
Meines Wissens ist es der erste deutschsprachige kritische Artikel zu dem Thema, so dass ich natürlich hoffe, dass er etwas Verbreitung findet.